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Philosophie

Vom unabhängigen Denken

Autor*in:Karl Jaspers
Verlag:Schwabe-Verlag, Basel 2023, 796 Seiten & 100 Seiten Einleitung
Rezensent*in:Gerhard Danzer
Datum:06.03.2023

Das Manuskript Vom unabhängigen Denken ist von Karl Jaspers nie als Buch veröffentlicht worden, sondern blieb stets eine voluminöse Sammlung von Texten, Entwürfen, Notate, Gedankenfetzen, Abhandlungen und Reflexionen, die Jaspers über Jahre zusammengetragen hat. Diese Konvolute waren die Reaktion von Jaspers auf das Buch Eichmann in Jerusalem von Hannah Arendt, das sie 1963 publiziert hatte, und das zu teilweise massiv kritischen Attacken gegen die Autorin führte. Ausgehend vom Inhalt dieser Publikation und der sich daran anschließenden öffentlichen Anwürfe und Beschuldigungen beschloss Jaspers, seine ehemalige Schülerin Hannah Arendt nicht nur zu verteidigen, sondern darüber hinaus diese Affäre zu nutzen, um grundsätzliche Überlegungen zur Frage anzustellen, was denn unabhängiges Denken bedeutet und inwiefern es sich bei Hannah Arendt um einen exemplarischen Fall einer solchen Denkbemühung handelte.

1961/62 war Arendt auf eigene Initiative hin mit einer delikaten Aufgabe betraut worden. Für die Zeitschrift The New Yorker sollte sie als Beobachterin eines aufsehenerregenden Gerichtsprozesses gegen Adolf Eichmann nach Jerusalem reisen. In den Monaten, die Arendt in Israel dem Prozess beiwohnte, entstanden umfangreiche Aufzeichnungen und Reportagen, die sie 1963 zu dem kontrovers diskutierten Buch Eichmann in Jerusalem zusammenstellte.

Zur großen Überraschung von Arendt wie auch von vielen weiteren Prozessbeobachtern erwies sich Adolf Eichmann (1906-1962) keineswegs als jener satanische oder dämonische Bösewicht, den man in ihm hätte vermuten können. Eichmann war als SS-Obersturmbannführer für die Organisation der Deportation europäischer Juden verantwortlich. Obwohl er selbst keine direkten Morddelikte beging, hatte er sich als gehorsamer, perfekter und hocheffizienter Schreibtischtäter an der Ermordung von etwa sechs Millionen jüdischen Menschen mitschuldig gemacht.

Nachdem der israelische Geheimdienst Eichmann in Argentinien aufgespürt und entführt hatte, machte man ihm in Jerusalem den Prozess. Das Gerichtsverfahren warf viele juristische, moralische, psychologische, anthropologische und historische Fragen auf, die nur teilweise geklärt wurden. So war es umstritten, ob die Israelis (ehemalige Opfer des NS-Regimes) in die Rolle des Richters von Eichmann rücken sollten. Karl Jaspers etwa plädierte entschieden dafür, diesen Prozess vor einem internationalen Gerichtshof zu führen.

Eichmann präsentierte sich in Jerusalem als Befehlsempfänger, der angeblich keine Vorstellung hatte, was er mit seinen Aktionen anstellte. In hohem Pflichtbewusstsein habe er alle ihm übertragenen Aufgaben stets erfüllt – wobei er in den sogenannten Sassen-Interviews (die dem Gericht nicht zur Verfügung standen) vor seiner Verhaftung damit geprahlt hatte, kein bloß normaler Befehlsempfänger, sondern ein Idealist gewesen zu sein. In Eichmann in Jerusalem charakterisierte ihn Arendt jedenfalls als gedankenlosen und ungebildeten Menschen, der ohne emotionale Regungen eine Art von „Verwaltungs-Massenmord“ organisierte:

Eichmann war nicht Jago und nicht Macbeth … Außer einer ganz gewöhnlichen Beflissenheit, alles zu tun, was seinem Fortkommen dienlich sein konnte, hatte er überhaupt keine Motive … Es war gewissermaßen schiere Gedankenlosigkeit, … die ihn dazu prädestinierte, zu einem der größten Verbrecher jener Zeit zu werden. Und wenn dies „banal“ ist und sogar komisch, wenn man ihm nämlich beim besten Willen keine teuflisch-dämonische Tiefe abgewinnen kann, so ist es doch darum noch lange nicht alltäglich (Arendt, H.: Eichmann in Jerusalem (1963), München 1992, S. 16f.).

Die Reaktionen auf Arendts Buch waren überwiegend negativ. Viele jüdische Kritiker warfen der Autorin vor, sie verharmlose mit ihrer Formulierung von der Banalität des Bösen die Täter und nehme die Opfer in ihrem Leid im Nachhinein nicht adäquat wahr. Dass Arendt mit ihrer Formel Immanuel Kants Idee eines „radikal Bösen“ in Frage stellen wollte, wurde von den meisten Lesern ebenso wenig rezipiert wie ihre Intention, einer Dämonisierung des Bösen (die aus diesem Bösen meist das Nicht-Verstehbare und damit das Nicht-Vermeidbare entstehen lässt) entgegenzuwirken.

Zwar gab es in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts noch keine sozialen (oder asozialen) elektronischen Medien wie zu unserer Zeit; aber was ein Shitstorm ist, konnte und musste Hannah Arendt nach der Publikation ihres Buches dennoch in vollem Ausmaß an ihrer eigenen Person erfahren. „In breiter Öffentlichkeit wurde der Sturm der Entrüstung zuerst durch eine Besprechung von Musmanno in The New York Times Book Review entfacht“ (S. 348), schrieb Jaspers dazu in seinem Manuskript. Und weiter notierte er als Reaktionen auf den Text Arendts: „In New York fand zeitweise ein Boykott im Buchhandel statt. Man sagte den Vertretern in den Buchhandlungen, dass man dies Buch nicht vertreiben solle. Das ist etwas ganz und gar Ungewöhnliches“ (Vom unabhängigen Denken, S. 348).

Ausgehend von den Positionierungen Hannah Arendts (vor allem in ihrem Buch Eichmann in Jerusalem) sowie den diversen Reaktionen darauf (die Jaspers minutiös notiert hat) fragte er sich, wie es zu dieser solitären Beurteilung und Meinungsäußerung Arends gekommen war, und inwiefern sich daran Merkmale eines unabhängigen Denkens aufzeigen ließen. Für Jaspers bestand die Unabhängigkeit eines Denk- und Urteils-Prozesses unter anderem darin, sich von gesellschaftlich, staatlich, religiös, ideologisch, sozioökonomisch vorgegebenen Denkklischees und Beurteilungsmustern zumindest partiell zu emanzipieren und stattdessen eigene Wert- und Bedeutungsmaßstäbe gelten zu lassen. Die in der Regel vorurteilsgetränkten Denkmuster (der Majorität), die sich bei den meisten Menschen als dogmatisch-starre Weltanschauungen bemerkbar machen, bezeichnete Jaspers in seiner ihm eigenen Terminologie auch als Gehäuse. Unabhängiges Denken erfordert demnach verschiedene Grade von existentieller Autonomie und Selbständigkeit, die sich auch darin erweist, dass der Einzelne auf die Wärme und den Schutz dieser Gehäuse ebenso verzichten kann wie auf den Applaus der Vielen.

Doch trotz aller intellektueller Unabhängigkeitsbestrebungen bleibt ein jeder auch dem Kollektiv, der Sozietät, der Tradition, dem Sprach- und Kulturraum, dem Zeitgeist und nicht zuletzt auch den ihm wichtigen Bezugspersonen mit deren Denkgewohnheiten verhaftet. Die Unabhängigkeit im Denken ist und bleibt eine sehr relative und darf und muss sich stets und immer wieder von den Tausend Abhängigkeiten, in die jeder von uns verwoben ist, zumindest teilweise abzulösen versuchen; oder in den Worten von Karl Jaspers:

Welch ungeheurer Anspruch: in dieser Welt unabhängig denken zu wollen! Wer bin ich denn, der das wagen kann? Etwa allen überlegen, weil ich wissen kann? Oder ein nichts, das dieses nichts erkennen muss, wenn es denkt? Überall sehe ich nur Abhängigkeiten. Ich allein soll der Unabhängigkeit fähig sein? (S. 154)

Hannah Arendt gestand der Denker in seinem Manuskript ein überraschend hohes Maß an unabhängiger Denk-Potentialität zu. So charakterisierte er ihr Lachen und ihre Ironie, ihren Mut und ihre Denkungsart sowie ihren Willen zum Adel des Menschen (Arendt sei konservativ, aber nicht konventionell; rebellierend und zugleich auf Dauer hin ausgerichtet; der Adel des Menschen – also das Edle an ihm – sei nur durch Wahrhaftigkeit zu retten und aufrechtzuhalten; S. 562f.). Dies alles habe bei Arendt zu ihrer relativen Unabhängigkeit im Denken und Urteilen beigetragen:

Die Unabhängigkeit des Denkens will wissen, was ist. Hannah Arendt wehrt die offenbar falschen und nichtssagenden Kategorien ab, die ihren Kritikern genügen. Eichmann sei: Rädchen in der Maschine …, dämonisches Ungeheuer …, Landknechtsnatur …, Unmensch … Auch sie kann angesichts der von ihr berichteten Tatsachen gelegentlich ihn einen Hanswurst nennen, das aber ist beiläufig… Die Unabhängigkeit des Denkens wagt zu sehen, was ist, auch wenn die Vorstellungen vielen von denen, die das Grauen erlitten haben und noch leben, widersprechen (S. 180f.).

So sehr für Jaspers in Hannah Arendt eine Philosophin ihre Stimme erhoben hatte, der er ein hohes Maß an Unabhängigkeit im Denken und Urteilen attestierte, so sehr bescheinigte er in seinem Manuskript dem Historiker Golo Mann eine merkliche Tendenz zum abhängigen Denken. Golo Mann hatte sich 1963, nach dem Erscheinen von Eichmann in Jerusalem, in der Neuen Rundschau kritisch mit dem Text und den Positionierung von Hannah Arendt auseinandergesetzt – so kritisch und polemisch, dass Jaspers ihn ausführlich zitiert. In einem Brief (vom 7. Januar 1964, der allerdings nie abgeschickt wurde) reagierte Jaspers auf die Kritik Golo Manns dann mit großer Empörung:

Lieber Golo Mann! … Ich bin traurig, trauriger, als Sie vielleicht denken. Es scheint mir, dass das keine Bagatelle ist und nicht sein darf. Es ist zwischen uns und in unserer kleinen Welt ein Ereignis, das ich mir zu klären habe… Manchmal habe ich das Gefühl, als ob Sie das gar nicht geschrieben haben könnten, aber Sie haben es geschrieben. Ich grüße Sie in alter Anhänglichkeit, obgleich ich heute in der aggressiven Verfassung gegen diese Ihre außerordentliche und mir noch unbegreifliche Aggression bin (S. 476f.).

Und so kam es, dass Golo Mann in den Augen von Karl Jaspers zu einem „kurzatmig bequemen“ Denker wurde, der „Literatur für gebildete Kreise mit dem Erfolg der Verschleierung der Gegenwärtigkeit und des Ernstes durch Bildung und Beurteilung“ produzierte (S. 469). Damit eignete er sich allenfalls für „geistige, unverantwortliche Kreise“ (S. 470) und bedeutete für Jaspers ein Paradebeispiel für abhängiges Denken. Existentielle Kommunikation und Wahrhaftigkeit sowie geistige Unabhängigkeit wären jedenfalls bei Golo Mann vergebens zu suchen – ganz im Gegensatz zu Hannah Arendt, deren Denken durch exakt jene Attribute ausgezeichnet sei.

Selbst wenn wir sechs Jahrzehnte nach diesen intellektuellen Auseinandersetzungen gewillt sein sollten, Hannah Arendt ein Gran mehr Abhängigkeit und Golo Mann ein Gran mehr Unabhängigkeit des Denkens zuzugestehen, als dies in den Zeilen von Karl Jaspers zum Ausdruck kommt, bin ich (und sind wir wahrscheinlich alle) doch beeindruckt von der enormen Ernsthaftigkeit und Radikalität, mit der Jaspers sich der Nicht-Bagatelle von Eichmann in Jerusalem und den darauffolgenden öffentlichen Reaktionen seinerzeit angenommen hat. Beeindruckt bin ich aber auch neuerlich von der immensen Seriosität und kundigen Gewissenhaftigkeit, mit der Georg Hartmann (der Herausgeber dieses Bandes der Karl-Jaspers-Gesamtausgabe) und der Schwabe-Verlag in Basel ihren Editionsaufgaben nachgekommen sind. Von der etwa 100 Seiten umfassenden, höchst informativen Einleitung über die 150 Seiten umfassenden, klugen Stellenkommentare bis hin zur hochfeinen und bibliophilen Ausgabe lässt dieser Band weder wissenschaftliche noch philosophische noch (auf den Buchdruck bezogene) handwerklich-künstlerische Wünsche offen.