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Philosophie

Pathographische Analysen und Schriften zur Medizin

Autor*in:Karl Jaspers
Verlag:Schwabe Verlag, Basel 2023, 413 Seiten
Rezensent*in:Gerhard Danzer
Datum:22.12.2023

Bei Pathographien - so lesen wir es im Großen Brockhaus ebenso wie bei Wikipedia - handelt es sich um die Erforschung, Aufzeichnung und Darstellung körperlicher und/oder seelischer Krankheiten und Anomalien von bedeutenden Persönlichkeiten. Anders als bei bloßen Krankengeschichten (Anamnesen und Katamnesen) untersuchen Pathographien auch die Wechselwirkungen von Leben, Werk und Krankheit der betreffenden Personen.

Einen Spezialfall stellen die Psychopathographien dar, bei denen psychosoziale Störungen und Erkrankungen von Künstlern, Schriftstellern, Dichtern, Wissenschaftlern oder auch von Politikern und Herrschern im Hinblick auf deren Oeuvre oder deren politisch-gesellschaftliche Taten respektive Untaten und Verbrechen eingeordnet und erläutert werden. Beispiele für die Gruppe der Letzteren sind psychopathographische Untersuchungen etwa über den bayerischen Märchen-König Ludwig II. oder über barbarische Diktatoren wie Hitler und Stalin.

In seinen pathographischen bzw. psychopathographischen Schriften hat Karl Jaspers sich merklich angenehmere als die letztgenannten Untersuchungsobjekte gewählt: Swedenborg, Hölderlin, Strindberg, van Gogh und in gewisser Weise auch sein umfangreiches Buch über Nietzsche stellen tiefgründige Abhandlungen über die Zusammenhänge von Leben, Werk und Krankheit dieser Kulturschöpfer dar. Das hauptsächliche Ziel von Jaspers bestand dabei nicht, die Autoren und ihre Werke als krank zu taxieren, sondern im Gegenteil über die biographische und werkanalytische Erörterung zu einem besseren Verständnis der jeweiligen Krankheiten beizutragen.

Im vorliegenden Band der Gesamtausgabe seiner Schriften findet sich als zentraler und wichtigster pathographischer Text eine Abhandlung, die vor ziemlich genau einhundert Jahren (1922) von Jaspers als Buch publiziert wurde: Strindberg und van Gogh - Versuch einer pathographischen Analyse unter vergleichender Heranziehung von Swedenborg und van Gogh. Bei allen Unterschieden der jeweiligen Biographien, Krankheitsbilder (Psychosen) und literarisch-künstlerischen Ausgestaltungen ihrer Werke fällt Jaspers zufolge eine Gemeinsamkeit dieser vier Persönlichhkeiten auf: Ihre hellsichtigen Einblicke in die Conditio humana und in das Gewebe von Welt und Kultur hatten sie einer "Auflockerung" ihrer psychosozialen und mentalen Verfassung zu verdanken, die sich letztlich auch als Teilaspekt ihrer Krankheiten herausstellte; oder in den Worten von Karl Jaspers:

Man könnte über die Tatsache der Verbindung subjektiver Tiefe mit beginnender Geisteskrankheit Reflexionen anstellen: dass so oft in der Welt das Gegensätzliche aneinandergebunden, das Wertpositive durch Wertnegatives erkauft werden muss. Es könnte vielleicht die größte Tiefe des metaphysischen Erlebens, das Bewusstsein des Absoluten, des Grauens und der Seligkeit im Bewusstsein der Empfindung des Übersinnlichen da gegeben sein, wo die Seele so weit aufgelockert wird, dass sie als zerstörte zurückbleibt (S. 101).

Das Angenehme an den pathographischen Ausführungen von Jaspers besteht in der völligen Abwesenheit billiger Psychopathologisierungen, wie es sie in den letzten Jahrzehnten unter anderem aus den Reihen mancher Psychoanalytiker zu beobachten gab und gibt. Bei ihm werden Künstler und Autoren sowie ihre Lebensläufe und Werke trotz aller Erkrankungen nicht zu schieren Fallvignetten degradiert, sondern immer als Anlass genommen, mit und bei ihnen Motive der menschlichen Existenz aufzuspüren und zu erhellen. Ergänzt werden die Überlegungen von Jaspers durch eine blitzgescheite Einleitung von Dominic Kaegi, des Herausgebers dieses Bandes der Gesamtausgabe, der zu einem uneingeschränkten Lektüre-Vergnügen der pathographischen Analysen von Karl Jaspers wesentlich beiträgt.