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Philosophie

Massenwahntheorie und Friedenspoetik - Hermann Broch und die bedrohte Demokratie des 20. Jahrhunderts

Autor*in:Sarah McGaughey et al. (Hrsg.)
Verlag:de Gruyter, Berlin 2023, 282 Seiten
Rezensent*in:Gerhard Danzer
Datum:28.01.2024

Eigentlich war Hermann Broch (1886-1951) Textil-Ingenieur und Eigentümer sowie Direktor einer Textil-Fabrik in der Nähe von Wien. Eine erste, mächtige Veränderung in seinem Leben führte er herbei, als er in die Literaten- und Kaffeehaus-Szene Wiens eintauchte und sich intensiv mit Kunst und Literatur beschäftigte; außerdem begann er, an der Universität Philosophie zu studieren und sich mit Psychoanalyse zu befassen. Anfang der 30-er Jahre - Broch hatte inzwischen seine Fabrik verkauft und lebte als freier Schriftsteller - publizierte er die Romantrilogie Die Schlafwandler, mit der er im Urteil von Literaturkennern zu einem modernen, progressiven Autor und in einem Atemzug mit Proust, Kafka, Joyce und Musil genannt wurde. 

Weil sich Anfang der 30-er Jahre bereits deutlich das Aufkommen von Faschismus, Stalinismus und Totalitarismus in Europa abzeichnete, finden sich schon in Die Schlafwandler Passagen, in denen sich Broch mit der politisch-gesellschaftlichen Krise in Europa auseinandersetzte, mit einer Krise, die er in ihrem Kern als einen umfassenden und tiefgreifenden Wertezerfall interpretierte. Zusammen mit Elias Canetti und anderen Intellektuellen diskutierte er damals ausführlich Phänomene der Massenpsychologie und Massensoziologie.

Derartige Themen nahmen neben seiner dichterischen Arbeit in den Jahren ab 1938 bei Broch einen zentralen Platz ein. Nach dem Anschluss Österreichs an das Dritte Reich (im März 1938) sah sich Broch aufgrund seiner jüdischen Abstammung wie auch aufgrund seiner politischen Weltanschauung zur Emigration in die USA gezwungen. Das Exil bedeutete für den Dichter die zweite massive Veränderung in seinem Dasein, wobei er in den Vereinigten Staaten rasch Anschluss an die dortigen Exilanten aus Europa fand; unter anderen mit Hannah Arendt, Thomas Mann, Albert Einstein und Erich von Kahler ergaben sich enge Kontakte und Freundschaften.

In den zwölf Jahren seines Exils (der Autor verstarb bereits 1951 an einem Herzinfarkt) verfasste Broch viele Texte und Abhandlungen zu Themen wie Masse, Massenwahn, Demagogie und Totalitarismus, aber auch zu Fragen der Menschenrechte und der Demokratie. Als Resultate publizierte er etwa Theorie der Demokratie 1938-1939 (1941), The City of Man – Ein Manifest über Weltdemokratie (1940), Die Demokratie im Zeitalter der Versklavung (1949) sowie seine unvollendete dreibändige Massenwahntheorie. Darin interpretierte er Massensituationen als eine Anästhesie von Angst-Affekten sowie als Kompensationsversuche von Ohnmacht, Unterlegenheit und massiver Wertunsicherheit. Die Einzelnen greifen in der Masse auf ein kollektives Ich, ein anonymes Wir zurück, um sich und ihren Selbstwert zu stabilisieren. Dafür übernehmen sie willig krude Meinungen bis hin zu den absonderlichsten Überzeugungen, die an Wahn-Urteile von psychotisch Erkrankten gemahnen. Broch sprach daher nicht lediglich von Massenpsychologie, sondern von Massenwahntheorie.

In Massenkonstellationen lassen sich die Einzelnen nicht nur von kollektiven Emotionen wie Wut, Empörung, Hass oder auch Euphorie und Jubel mitreißen, sondern auch von den Meinungen, Urteilen und Überzeugungen des Kollektivs, die in ihrer Unkorrigierbarkeit den Urteilen und Überzeugungen von Wahnkranken ähneln. Solch fixe Meinungen und Überzeugungen können beispielsweise lauten: Wir als Masse beherrschen die Welt; wir als Masse verachten die Welt; wir als Masse eliminieren die Welt. In seiner Massenwahntheorie beschrieb Broch einige konkrete Ausgestaltungen dieser Überzeugungen: Wir verachten die Materie, wir dominieren das Denken, wir eliminieren Ungläubige (religiöser Massenwahn); wir verachten das Leben, wir beherrschen die Technik, wir eliminieren den Feind (militärischer Massenwahn); wir verachten die Freiheit, wir beherrschen die Kontrolle, wir eliminieren den, der Abweichler zu sein scheint (totalitärer Massenwahn); wir verachten alte Ordnung, wir eliminieren die alte Führung und wir beherrschen das Chaos (revolutionärer Massenwahn). Je nach historischer, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher Situation konstellieren sich unterschiedliche solche Massen, die mit einem entsprechenden weltanschaulich-ideologischen Korsett (faschistischer oder bolschewistischer oder chauvinistischer Couleur) versehen sind.

Während der Jahre seines Exils positionierte sich Broch entschieden gegen jegliche Form totalitärer Herrschaft. Ähnlich wie es Hannah Arendt in ihrem inzwischen längst zum Klassiker avancierten Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951) ausgeführt hatte, dass sowohl das Hitler- wie auch das Stalin-Regime vollumfänglich die Merkmale des Totalitarismus aufwiesen und daher komplett abzulehnen und zu bekämpfen seien, erkannte auch Broch im Faschismus wie im Bolschewismus totalitäre, versklavende und zutiefst inhumane Herrschafts- und Interaktionsmuster:

Der echte Demokrat kämpft nicht für einen bestimmten Typus der Ökonomie, er kämpft einfach für die Humanitätsprinzipien der Demokratie, und er bekämpft mit äußerster Intensität die Gefahr der Menschheits-Versklavung und eines Terrors, der bereits allenthalben im Kommunismus wie im Faschismus zur Wirklichkeit geworden ist. Er kämpft wahrhaft für die bedrohte Freiheit und Würde des Menschen. Denn er fühlt – zumeist unbewusst, selten bewusst –, dass Freiheit bloß im offenen System der Demokratie, niemals jedoch in einem geschlossenen nach der Art des Marxismus oder des Faschismus dauernd realisiert werden kann. 

Dieses Zitat macht deutlich, dass die Überlegungen Brochs aus der Mitte des letzten Jahrhunderts in vielerlei Hinsicht ihre Aktualität und Gültigkeit nicht eingebüßt haben. Welche Gedanken und Vorschläge etwa zum Wesen von Demokratie, zur Friedenspolitik, zu Erziehung und Bildung, zu Menschenrechten sowie zur Anthropologie, Soziologie und Politologie auch heute, in den 20-er Jahren des 21. Jahrhunderts, lohnenswert sind, um rezipiert und weiterentwickelt zu werden, macht das vorliegende Buch über Massenwahntheorie und Friedenspoetik auf außerordentlich substanziierte Art und Weise deutlich.

Der Band ist zu Recht Paul Michael Lützeler gewidmet, der in den letzten Jahrzehnten mit vielen ausgezeichneten Abhandlungen, Werkanalysen und biografischen Texten und nicht zuletzt mit der Edition von Briefbänden und der Kommentierten Werkausgabe dafür gesorgt hat, das immens weitgefächerte Oeuvre Hermann Brochs vor dem Vergessen zu retten - ein intellektuell-literarisches Oeuvre und ein Autor, für die eine Formulierung aus Brochs Essay Die Intellektuellen und der Kampf um die Menschenrechte (1950) zutrifft: "Der Intellektuelle ist ein Utopist, weil er der geborene Revolutionär ist. Denn im Gegensatz zu den materiellen Interessen des Bürgers (auch des proletarischen Bürgers) kennt der geistige Mensch nur ein einziges Interesse, und das heißt Erkenntnis und Menschlichkeit."