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Philosophie

Lob der Skepsis – Ein Essay

Autor*in:Grete Adrian
Verlag:VTA Verlag, Berlin 2016, 169 Seiten
Rezensent*in:Klaus Hölzer
Datum:06.03.2019

Eine Grundthese der Skeptiker, dass an allem gezweifelt werden darf, wirkte und wirkt auf die autoritäre Gesinnung aller Zeiten wie ein rotes Tuch. Dabei streift die Autorin die Skepsis der Philosophen nur am Rande, wie sie einleitend schreibt, und findet dennoch eine gute Anzahl von Denkern, die ihre Thesen stärken. Grete Adrian verfolgt das skeptische Denken vom Griechenland der Antike über Erasmus von Rotterdam bis zur Zeit der Aufklärung. Besonders am Herzen liegen ihr zwei ernsthafte, eigentlich philosophische Fragen, die es in sich haben, nämlich: Gehört Skepsis zur menschlichen Natur, und wenn ja, warum fällt es vielen Menschen so schwer, skeptisch zu sein? Und: Fördert Optimismus – landläufig ein Gegensatz zur Skepsis – den Fortschritt oder bremst er ihn?

Im mittleren Teil der Arbeit wendet sich Grete Adrian sieben Philosophen zu, die ihr als Beispiele skeptischer Denker erscheinen. Das Leben und Werk dieser Philosophen stellt sie in treffenden Skizzen vor, die ihre Sympathie für die Dargestellten nicht verbergen. An Voltaire schätzte sie, dass er „das gefährliche Bild der heiligen Lügen“ aufdeckte, welches das engstirnige Denken von der Welt gezeichnet hat. Den Junghegelianer Ludwig Feuerbach sieht sie als Vordenker eines universalen Humanismus, der den Zweck des Menschen in sich selbst, also in seiner Würde findet. Feuerbach war ein radikaler Gegner von aufgezwungenem und indoktriniertem Denken. Aus dieser Einstellung heraus verfasste er den Aphorismus: Ein Dogma ist das ausdrückliche Verbot, selber zu denken.

Das Selberdenken war auch eines der großen Anliegen des Philosophen Max Stirner. Seine Publikation von 1845 Der Einzige und sein Eigentum ist ein wichtiger Beitrag zur philosophischen Anthropologie. Manche der darin vorgetragenen Gedanken zur Erziehung der Kinder erinnern an die Psychologie Alfred Adlers und Friedrich Lieblings, nicht zuletzt auch sein Hinweis, man
möge nicht nur den Verstand, sondern auch die Herzen der Kinder bilden. Karl Löwith baute auf dem skeptischen Denken der Linkshegelianer auf. In diesem Geist verfasste er sein großes Werk Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts. Er war ein Philosoph, der die Religion nicht bloß entschieden kritisierte, sondern innerhalb seiner kritischen Sicht ein gründliches – man möchte sagen – ein vorbildliches Verstehen der religiösen Position präsentierte, die er sich allerdings nicht zu eigen machen wollte. Auch seine Habilitationsschrift Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen ist eine tiefgründige Untersuchung der Zwischenmenschlichkeit und des menschlichen Gesprächs, die beide Voraussetzungen für skeptische Untersuchungen sind. In der Beziehung zu seinem Lehrer Martin Heidegger wird seine skeptische Haltung besonders deutlich. Trotz vielfältiger freundschaftlicher Beziehungen zwischen Heidegger und Löwith war der Jüngere bereits zu einem frühen Zeitpunkt auf Aspekte des Denkens des Älteren gestoßen, die er nicht akzeptieren wollte, die der Student im Briefwechsel mit dem Lehrer bereits ansprach und die er später in dem Essay Heidegger – Denker in dürftiger Zeit ausführlich darstellte.

Albert Camus plädiert für eine freiheitliche Gesinnung im Zusammenleben aller Menschen. Sein Hauptwerk Der Mensch in der Revolte analysiert Ideologien, die bei den Menschen Ängste erzeugen können und eigenes Denken unterbinden. Der Mensch passt sich lange Zeit auch misslichen Verhältnissen an. Doch wenn die Grenze des Ertragbaren überschritten wird, beginnt er, Widerstand zu leisten: „Lieber aufrecht sterben als auf Knien leben“, heißt es bei Camus. Nelson Mandela in Südafrika war über das politische Regime dieses Landes entsetzt. Mit Recht empörte er sich darüber, wie dieser Staat mit ihm und seinen Brüdern und Schwestern umging. Gegen stärkste Widerstände versuchte er, sich durchsetzen, und trotz langjähriger Gefangenschaft hielt er am skeptischen Denken fest. Es gelang den Behörden nicht, seinen opponierenden Geist und seine gewaltige Willenskraft zu zerbrechen. Was ihm half, war die solidarische Haltung seiner Mitgefangenen. Der Philosoph Bertrand Russell hat tiefgründig über das menschliche Leben nachgedacht und die Stellung des Menschen im Universum beschrieben. Seine Skepsis war, ähnlich wie bei Camus, darauf gerichtet, die Menschen nachdenklich zu stimmen und sie aus ihrem fatalistischen Verweilen in entwürdigenden Situationen herauszuholen.

Kapitel 4 ist dem skeptischen Potential der Psychologie, insbesondere der Tiefenpsychologie gewidmet. Der Pionier dieser neuen Wissenschaft, Sigmund Freud, war skeptisch gegenüber der akademischen Psychologie seiner Zeit und postulierte in Anlehnung an Sokrates eine Fundierung der Selbsterkenntnis, ohne die ein von den Emotionen gefesseltes Denken kaum zu überwinden ist. Der zweite Gründervater der Tiefenpsychologie, Alfred Adler, deckte in seinen Analysen das in der Psyche eines jeden Menschen verborgene Machtstreben auf, das man kennen und von Grund auf verstehen muss, um gegen eigene und fremde Machtambitionen gewappnet zu sein.

Abschließend kommen zwei mutige Schriftstellerinnen zu Wort, die allen Grund hatten, die Dominanzbestrebungen der Männer ihrer Epoche anzuzweifeln. Im 15. Jahrhundert entwickelte Christine de Pizan und im 20. Jahrhundert Virginia Woolf skeptische Gedanken gegenüber dem Machtanspruch der Männer – eine Skepsis, die auch heute noch ihre Berechtigung hat.

Dass Skeptizismus und Optimismus zur menschlichen Natur gehören, arbeitet Grete Adrian deutlich in ihrem Essay heraus. Der Glaube, dass wir Menschen aber in der besten aller denkbaren Welten leben, mutet keineswegs fortschrittlich an. Er bremst oder verhindert eine menschenwürdige Zukunft, wenn er sich aus Furcht vor Autoritäten notwendigen humanitären Veränderungen, und seien sie unbequem, verweigert. Hervorzuheben ist, dass Grete Adrian sich einer gepflegten und schlichten Sprache bedient. Leben und Werk der behandelten Autorinnen und Autoren stellt sie dem Leser in eindrücklichen Worten vor, in Worten, die haften bleiben.