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Biographien

Erasmus

Autor*in:Johan Huizinga
Verlag:Schwabe Verlag, Basel 2022, 249 Seiten
Rezensent*in:Gerhard Danzer
Datum:19.09.2022

Mit dem Namen Johan Huizinga (1872-1945) assoziiert man gemeinhin die Titel zweier seiner Bücher: Der Herbst des Mittelaltersund Homo ludens. Darüber hinaus hat der niederländische Geschichts- und Kulturwissenschaftler jedoch eine Reihe weiterer Publikationen vorgelegt, die Beachtung verdienen – unter anderem eine Biografie über Erasmus von Rotterdam.

Mit seiner Abhandlung über den Rotterdamer Humanisten gelang Huizinga nach seinem Buch über das Mittelalter eine weitere Geschichtsdarstellung, die Maßstäbe setzte. Nach dem Spätmittelalter untersuchte der Autor den Humanismus und damit den Anbruch der Neuzeit. Als herausragende Gestalt wählte er nicht von ungefähr Erasmus von Rotterdam (1466-1536): Neben dessen literarischen Leistungen schätzte Huizinga vor allem auch den Charakter seines Landsmannes, mit dem er sich in mancherlei Hinsicht wesensverwandt fühlte.

In seinem Erasmus-Buch zeichnete Huizinga in groben Zügen den Lebenslauf des Humanisten nach. Die Umstände der Geburt von Erasmus waren unklar, und man kennt bis heute nicht sein Geburtsjahr. Als Knabe wurde er in Klosterschulen erzogen, wo er einen merklichen Affekt gegen das Klosterleben entwickelte. Später erhielt er die Priesterweihen, konnte jedoch bald als Sekretär eines Bischofs durch Europa reisen und lernte sowohl die antike als auch die damals zeitgenössische Literatur kennen.

Von 1499 bis 1500 reiste er das erste Mal nach England, wo er Freundschaft mit Thomas Morus (1478-1535), dem zukünftigen Autor von Utopia und kommenden Staatsmann, schloss. Bei seiner Rückreise verlor Erasmus sämtliche Ersparnisse und war gezwungen, sich mit seiner Schriftstellerei über Wasser zu halten. Daraus entstanden die Adagia (1500), eine Sammlung von Sprichwörtern, die den Autor berühmt machte. Mit den Adagia brachte Erasmus in Europa den Geist der Antike wieder in Umlauf, den manche Humanisten vor ihm bereits beschworen hatten. Er präsentierte darin einen so reichen Steinbruch von Weisheiten und Anleitungen zum glücklichen Leben, wie man ihn seit Petrarca und den Tagen der Frührenaissance nicht mehr erlebt hatte. In dieser Schrift kommen jene Seiten des Rotterdamers zur Geltung, die Huizinga an ihm bewundert hat: universale Gelehrsamkeit, wohltemperierte Sprache, feiner Spott, weltanschauliche Autonomie.

1506 reiste Erasmus nach Italien, wo er vier Jahre lang lebte. Er kam auch nach Venedig, wo er den Verleger Aldus Manutius traf und das erste Mal sein Dasein ganz nach dem ihm eigenen Stil lebte: Lesend und schreibend saß er oft tagelang im Verlagshaus von Manutius, korrigierte Druckfahnen, entwarf neue Paragraphen seiner Adagia, plauderte mit den Setzern und Druckergesellen und freute sich wie ein Kind über die bibliophile Machart seiner Bücher.

Im Sommer 1509 überquerte Erasmus die Alpenpässe in Richtung Norden, um neuerlich nach England zu gehen. Er verbrachte einige Zeit auf Pferderücken und in Kutschen; dabei entwarf er ein neues Buch: Das Lob der Torheit (1511). In dieser Schrift, die er seinem Freund Thomas Morus widmete, schlüpft der Autor in die Rolle der Torheit und schildert aus ihrer Sicht die Menschen und den Weltenlauf. Huizinga hat diesen Text besonders geschätzt; in seinem Erasmus-Buch urteilt er darüber:

Das Lob der Torheit ist sein bestes Werk gewesen. Andere schrieb er, die gelehrter, vielleicht frömmer, möglicherweise auch von ebenso großem oder größerem Einfluss auf seine Zeit gewesen sind. Sie haben ihre Zeit gehabt. Unvergänglich sollte allein Das Lob der Torheit sein. Denn erst, wo der Humor diesen Geist durchleuchtete, wurde er wahrhaft tiefsinnig (S. 81f.).

1514 kehrte Erasmus wieder auf den Kontinent zurück, wo er von nun an bevorzugt in Basel lebte. Er traf mit Ulrich von Hutten, Johann Reuchlin, Sebastian Brant und anderen Humanisten zusammen. In der Folge weigerte er sich höflich, aber bestimmt, sich vor irgendeinen weltanschaulichen oder religiösen Karren spannen zu lassen. Er begann, sowohl zu Luther, Zwingli und Calvin als auch zu den Gegenreformatoren auf Distanz zu gehen. Der militante Ton ihrer Auseinandersetzungen störte ihn ebenso wie viele inhaltliche Aspekte der Streitigkeiten, bei denen seiner Meinung nach antihumanistische Positionen vertreten wurden.

Die 20er Jahre des 16. Jahrhunderts bedeuteten für Erasmus einen steten Wechsel von persönlicher Anerkennung und massiver Kritik. Man bot ihm Professuren von verschiedenen Universitäten an, und sowohl bei Franz I. (Frankreich) wie auch bei Heinrich VIII. (England) und Karl V. (Habsburg) hätte er an deren Höfen hohe Ämter einnehmen können. Alle Avancen beschied der Gelehrte negativ: „Ich wollte immer ein Einzelner sein und hasse nichts mehr als eingeschworene Parteigänger.“

Ebenfalls zu dieser Zeit bemühten sich die bedeutendsten Künstler der Epoche, Erasmus zu porträtieren. Von Albrecht Dürer stammen einige Kupferstiche, und Hans Holbein der Jüngere malte vom Humanisten Bilder in Öl. Alle Konterfeis geben einen vergeistigt wirkenden Gesichtsausdruck wieder: Der konzentrierte Blick geht in die Ferne oder gilt einer Arbeit auf dem Schreibtisch, und die Lippen umspielt ein feines Lächeln, dessen emotionale Skala von der Introversion bis zur Spottlust reicht.

An Erasmus hob Huizinga die Merkmale eines Humanisten lobend hervor: überragendes Interesse an antiker Kultur, freiheitliches Denken, Toleranz und größtmögliche Bildung. Zum Ende seines Buches fällt er ein Urteil über seinen Landsmann, in dem sich einige Ideale und Wesenszüge des Autors selbst widerspiegeln:

Als geistiger Typus gehört Erasmus zu der ziemlich seltenen Gruppe derjenigen, die zugleich unbedingte Idealisten und durchaus Gemäßigte sind. Sie können die Unvollkommenheit der Welt nicht ertragen, sie müssen sich widersetzen; aber sie fühlen sich bei den Extremen nicht zuhause, sie schrecken vor der Tat zurück, weil sie wissen, dass diese immer ebenso viel zerbricht als aufbaut (S. 201).

Gesondert erwähnen an diesem Huizinga-Band des Schwabe-Verlags möchte ich neben der bibliophilen Aufmachung des Buches seinen (aufgrund der Paperback-Variante) erschwinglichen Preis (32 Euro) sowie die Tatsache, dass der inzwischen einhundert Jahre alte Text nichts von seiner Frische und Aktualität verloren hat. Auch heute noch lesen wir Huizingas Erasmus mit allerhöchstem intellektuellem Gewinn und Genuss.